Ein Essay über die Chance von Begegnungen
Begegnungen
Warum reisen wir? Im Idealfall, meint die Kulturanthropologin Theresa Frank, um neugierig und lebendig zu bleiben. Ein Essay über die Chance von Begegnungen – auch zwischen Gast und Gastgeber
Menschen, die sich überall zu Hause fühlen, wenn sie verreisen, verdienen auch sonst nicht viel Vertrauen.“ Wen auch immer der Schriftsteller George Bernard Shaw bei diesem Satz vor Augen hatte, er entspricht ganz bestimmt nicht dem Idealbild des Reisenden: Der soll doch offen, tolerant, anpassungsfähig und jederzeit bereit sein, über den eigenen Tellerrand zu blicken. Die Kritik am Reisen(den) ist, ebenso wie seine Idealisierung, so alt wie das Reisen selbst. Vor allem der industrialisierte Massentourismus genießt als vermeintlicher Zerstörer von Natur und Kultur einen eher zweifelhaften Ruf. Wie gerne wird über das „Trampeltier Tourist“ gelästert, seine mangelnde Rücksicht auf die einheimische Bevölkerung kritisiert und über seine „Ich hab’ ja schließlich dafür bezahlt“-Mentalität die Nase gerümpft.
Auf Reisen begleitet uns die Sehnsucht, Neues und dabei auch uns selbst neu zu entdecken.
Verständlich also, dass heute niemand gerne als „Tourist“, sondern viel lieber als „Reisender“ gesehen wird, haftet Letzterem doch immerhin noch ein bisschen der Glanz des Reise-Ideals vergangener Epochen an, als Bildung und Horizonterweiterung im Mittelpunkt standen.
Eines steht fest: Der bewusste Aufbruch in die Fremde beinhaltet immer sowohl Chancen als auch Grenzen – und die Möglichkeit, in der Begegnung mit dem Anderen eine Bereicherung zu erfahren. Was bedeutet Begegnung? Es bedeutet, ein G e g e n ü b e r zu haben. Ein Gegenüber, das zu uns in Beziehung tritt, uns wahrnimmt, auf uns reagiert, Fragen stellt, Antworten anbietet, einen Dialog entfacht. So kitschig es klingen mag: Begegnungen zu suchen heißt, lebendig und neugierig zu bleiben. Sich aktiv mit der Welt auseinander zu setzen. Immer wieder aufs Neue Grenzen, auch und vor allem die eigenen, auszuloten.
Ein besseres Verständnis des Verhältnisses zwischen Eigenem und Fremdem erlaubt auch die Einsicht, dass es das Fremde braucht, damit das Eigene nicht stagniert. So verlieren Kultur, Tradition, Brauchtum, Identität – welchen Begriff auch immer man wählen möchte, um das Bekannte, Vermeintlich-schon-immer-so-Gewesene zu beschreiben – ihren starren Charakter und werden zu einem Raum, in dem ein Dialog statt-finden kann. Ein Dialog, in dem Authentizität darin besteht, ein Gespräch über den Austausch zu führen, und nicht etwa zu klären, was vermeintlich „echte“ im Gegensatz zu „verfälschter“ Kultur sei. Mit den Worten des Ethnopsychoanalytikers Mario Erdheim: „Statt Kultur mit dem Bekannten, Vertrauten, schon immer Familiären gleichzusetzen, sollte man sie aufs Fremde beziehen: Kultur ist das, was in der Auseinandersetzung mit dem Fremden entsteht.“
Das Unterwegssein und die Neugier auf die neue Umgebung machen uns offener und zugänglicher, zugleich sind wir in der Fremde aber auch leichter
zu verunsichern, wenn nicht sogar verwundbarer.
Begegnungen spielen auf Reisen eine besondere Rolle: Das Unterwegssein und die Neugier auf die neue Umgebung machen uns offener und zugänglicher, zugleich sind wir in der Fremde aber auch leichter zu verunsichern, wenn nicht sogar verwundbarer. Wir sind mehr als sonst auf andere angewiesen. Wie gerne erzählen Menschen doch davon, wie sie sich auf Reisen prima mit Händen und Füßen verständigten oder nur ein Blick oder eine Geste genügte, um mit Einheimischen in Kontakt zu treten. Auch wenn dies wie ein romantisches Klischee klingt, es wird darin doch der Wunsch nach positiven Begegnungen sichtbar.
Die Sehnsucht, auf Reisen Neues und dabei sich selbst neu zu entdecken, und der Wunsch, an- und zu sich zu kommen, sind nicht unbedingt ein Widerspruch. Wieso sonst ist die Formel „Ankommen im Unterwegssein“ wohl so ein beliebtes Reisemotiv? Das Ankommen im Zuhause auf Zeit zu erleichtern, ist eine wichtige Aufgabe des Gastgebers. In der klassischen Ethnologie wird dem Gastgeber immer auch eine gewisse Macht über seinen Gast zugeschrieben. Diverse Willkommensrituale etwa dienen nicht zuletzt dazu, den „Eindringling“ zu domestizieren, d. h. ihn für die Dauer seines Aufenthaltes in die Gemeinschaft zu integrieren. Gastgeber haben somit Gestaltungsmacht über die Art und Weise der Begegnung, sie stecken das Setting ab und kontrollieren die potenzielle Einflussnahme des Gastes. Und Gast zu sein, bedeutet schließlich auch, sich in die Hände anderer zu begeben, abhängig zu sein und nicht zuletzt in der Schuld zu stehen.
Im Kontext des Massentourismus erscheint der Gastgeber eventuell eher wie eine Mischung aus Zirkusdirektor und Dompteur, der die Massen zugleich unterhält und im Zaum hält. Und der Tourist wird tendenziell auf seine Rolle als zahlender Gast reduziert. Selbstverständlich ist der Austausch zwischen Gast und Gastgeber im Tourismus zu einem gewissen Grad immer anonym und inszeniert. Dass die jeweiligen Rollen klar festgelegt sind, bietet ja auch Orientierung und Sicherheit, denn so können Gast und Gastgeber auf mehr oder weniger klare Interaktionsmuster zurückgreifen. Gewisse Stereotypisierungen müssen demnach nicht automatisch eine konstruktive und für beide Seiten bereichernde Begegnung verhindern. Problematisch wird es jedoch, wenn der jeweils andere tatsächlich nur noch als austauschbare Größe wahrgenommen wird – bzw. wahrgenommen werden kann, weil der Kontext des Aufeinandertreffens zu anonym und im wahrsten Sinne zu massenhaft (geworden) ist. So wie der Gast-geber seine Gäste nicht mehr als Individuen wahrnehmen kann, so besteht auch die Gefahr, dass für den Touristen der besuchte Ort zur Kulisse und die Einheimischen zu Statisten verkommen, konsumierbare Elemente einer Erholungs- und Erlebniswelt.
Im Alpenraum genießt die Gastfreundschaft einen besonderen Stellenwert.
Versteht man Tourismus jedoch nicht bloß als Industrie und lenkt den Blick stattdessen vermehrt auf den sozialen, empathischen Aspekt, avancieren zwischenmenschliche Begegnungen von einer lediglichen Nebensache zu einem zentralen Gestaltungsfaktor. Das Gastgebertum ist etwas Bereicherndes, die Persön lichkeit und der Lebensalltag des Gastgebers sind interessant für den Reisenden. Dies gilt besonders im Alpenraum, wo Gastfreundschaft einen hohen Stellenwert genießt, ja angesichts der Ausgesetztheit in der oft extremen Natur eine überlebenswichtige Notwendigkeit darstellt. Als Sinnbild hierfür können Berg- und Schutzhütten stehen, die jederzeit jedem offenstehen.
Somit könnte das „sich überall zu Hause fühlen“ auch als Möglichkeit umgedeutet werden, sich dank authentischer Begegnungen am fremden Ort gut aufgehoben und geborgen zu fühlen. Denn das ist es doch, was den Reiz des Reisens ausmacht: sich ins Unbekannte zu stürzen und dabei neue Heimaten zu finden. Dafür Begegnungsräume zu schaffen, ist mit Sicherheit ein fruchtbares Unterfangen.
Die Autorin Theresa Frank
Theresa Frank, geboren 1980, hat Kultur- und Sozialanthropologie sowie Vergleichende Literaturwissenschaft studiert. Nach vielen Jahren als freiberufliche Lektorin und Korrektorin arbeitet sie heute in einem Wissenschaftsverlag in Innsbruck. Zum Thema hat sie auch ein Buch geschrieben: „Begegnungen. Eine kritische Hommage an das Reisen“ (LIT-Verlag, 2011).