Eine Wohltat für Körper und Seele
Wandern ist die beste Medizin
Dass Bewegung in schöner Natur gesund ist, wissen wir schon lange. Aber warum macht Wandern uns glücklich? Psychiater Prof. Reinhard Haller hat spannende, wissenschaftlich belegte Antworten
Während die positiven Auswirkungen des Wanderns auf die körperliche Gesundheit gut erforscht sind, ist der Effekt auf die Psyche noch viel zu wenig bekannt. Wandern fördert, wie jeder Ausdauersport, unsere körperliche Fitness und führt zu allgemeiner Leistungssteigerung. Es verbessert den Stoffwechsel, stärkt das Immun- und Hormonsystem, fördert Muskelkraft und Ausdauer, beugt Osteoporose und Hauterschlaffung vor, regt die Blutbildung an und ist das beste Mittel zur Gewichtsreduktion. Ein Medikament, das alle Wirkungen des regelmäßigen Wanderns enthalten könnte, wäre die Wunderpille schlechthin und ein pharmakologischer Bestseller, wie es ihn noch nie gegeben hat. Wandern hat auch Einfluss auf die allgemeine Gesundheit, in dem es den Schlaf verbessert, das Wohlbefinden fördert und erholsam ist. Besonders beeindruckend sind aber die viel zu wenig beachteten Effekte auf die Psyche und das seelische Wohlbefinden.
In der Psychogeographie wurde nachgewiesen, wie sehr Landschaften das Wesen eines Menschen prägen und seine Emotionalität bestimmen können. Manche Landschaften sind uns vertraut, andere machen uns ernst und wehmütig, wieder andere geben uns ein Gefühl von Geborgenheit und innerem Frieden oder auch von Sehnsucht und Aufbruchstimmung. Wandern kommt ferner dem heute weit verbreiteten Bedürfnis nach natürlichem Leben, nach Reduktion auf das Wesentliche und auf individuelle Freiheit durch Genügsamkeit entgegen. Die Slow-Travel-Bewegung hat nicht nur die Langsamkeit entdeckt, sondern auch den Weg zum Ziel gemacht. Wandern führt zur psychischen Intensivierung aller Wahrnehmungen, zur seelischen Vertiefung von Gedanken und Emotionen.
Schon der begeisterte Wanderer Johann Wolfgang von Goethe meinte einst: „Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen“.
Wissenschaftlich nachgewiesen sind die hirnbiologischen Effekte des Wanderns, welche besonders das zentrale Belohnungssystem betreffen. Die Daueranstrengung aktiviert mehrere Hirnareale, die über den Botenstoff Dopamin kommunizieren, und zwar auf eine ähnliche Weise, wie dies durch Hypnose, Autogenes Training oder Meditationstechniken erreicht werden kann. Die Gehirnstromaktivität wird durch Wandern ähnlich reguliert wie durch diese therapeutischen Entspannungsverfahren.
Eine genaue psychologische Analyse zeigt, dass das Wandern die wesentlichen Ziele der Psychotherapie weitgehend erfüllt: die Bindung an die Natur, die Orientierung in der äußeren und inneren Landschaft, den Lustgewinn im Jogger-High, das es auch beim Bergwandern gibt, die Auflösung von Angst und Depression, die Selbstwertstärkung durch erbrachte Leistungen, die Distanzierung von Alltagssorgen, das Erschließen neuer Perspektiven und vor allem das Erreichen von Gelassenheit. Was fördert unseren Selbstwert mehr als ein erreichter Gipfel, und was gibt uns mehr Gelassenheit, als das Betrachten der tief unten oder weit entfernt liegenden miniklein wirkenden Alltagswelt aus landschaftlicher Erhabenheit? Das Wandern führt zur Distanzierung von unseren Alltagsproblemen und relativiert Sorgen. Wir können neue Welten erwandern – auch innere.
Ein Medikament, das alle Wirkungen des regelmäßigen Wanderns enthält?
Das wäre die Wunderpille schlechthin – ein Bestseller.
Im Wandern sind verschiedene psychotherapeutische Techniken und Therapieverfahren, für welche wir sonst viel bezahlen müssen, zumindest zu einem gewissen Teil enthalten:
Wandern ist eine hervorragende Körpertherapie. Drogensüchtige, welche häufig unter dem Gefühl der eigenen Entfremdung leiden („mein Körper gehört nicht zu mir“), spüren sich plötzlich wieder: Im Klopfen des Herzens, dem schnellen Atem, in der Muskelspannung. Wandern ist unweigerlich mit Bewusstwerden des Luftholens verbunden und hat dadurch einen ähnlichen Effekt wie eine Atemtherapie. Wandern führt zur Entschleunigung, zur Achtsamkeit für das Hier und Jetzt, zum Loslassen. Da das Wandern durch die Natur und auf die Berge gleichzeitig auch ein Wandern nach innen ist, bietet es einen guten Rahmen für den inneren Dialog, einer psychotherapeutischen Technik, bei der man mit sich selbst in Rede und Gegenrede über ein Problem spricht. Durch die Umsetzung unserer Emotionen in körperliche Energie dient Wandern dem Frustrationsabbau und stellt eine Antiaggressionstherapie ersten Ranges dar.
Wandern ist wie jeder Ausdauersport ein natürliches Mittel gegen alle Formen von Depression. Durch jede über 30 Minuten reichende Daueranstrengung werden die bei depressiven Menschen erniedrigten Botenstoffe Serotonin und Noradrenalin erhöht. Gleichzeitig ruft Ausdauersport eine natürliche Euphorie hervor. Aktuelle wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass drei Wandereinheiten pro Woche bei depressiven Patienten ähnlich wirksam sind wie hochpotente Psychopharmaka. So stellt Wandern auch eine der wirksamsten Vorbeugungs- und Behandlungsmöglichkeiten des Burn-out dar. Dies erkannte übrigens auch schon der unter Depressionen leidende große dänische Philosoph Søren Kierkegaard und schrieb: „Ich habe mir meine besten Gedanken ergangen und kenne keinen Kummer, den man nicht weggehen kann.“ Eine Untersuchung an der Universität Salzburg hat belegt, dass Wandern bei suizidalen Patienten die Prognose eklatant verbessert.
Wandern fördert die Kreativität und baut Frust ab.
Wandern fördert – auch das ist wissenschaftlich belegt – unsere Kreativität. Allein die Begegnung mit neuen Landschaften, das freie Atmen in der Natur und die Anregung der Phantasie durch die Schönheit der Natur gibt uns eine Fülle neuer Ideen und eröffnet unbekannte Gefühlsdimensionen. Wandern wäre somit auch eines der wirksamsten Psychopharmaka, wenn man all seine Effekte in einer Tablette komprimieren könnte. Was schade wäre: Denn das Wandern, besonders in Gebirgslandschaften, ist viel zu schön, um es auf eine chemische Substanz zu reduzieren.
All diese Ausführungen stellen keine Romantisierungen und keine falschen Heilsversprechungen dar. Naturerlebnis und Wandern können keine Wunder vollbringen, haben aber viele psychotherapeutische Funktionen. Dies sage ich nach vielen Jahren Tätigkeit als Psychiater und Psychotherapeut nicht, weil ich von der Psychotherapie so wenig, sondern weil ich vom Wandern – speziell in den Bergen – so viel halte.
Zur Vita
Prof. Reinhard Haller, 1951 in Mellau im Bregenzerwald geboren, ist einer der renommiertesten Psychiater, Psychotherapeuten und Neurologen Österreichs. Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Suchtforschung. Reinhard Haller wurde außerdem als psychiatrischer Gerichtsgutachter bekannt.