C Skifahrer Panorama Pfannenkopf Alpe Rauz Arlberg © Sepp Mallaun / Vorarlberg Tourismus
Eine Reise zur Winterzeit
Wenn alles weiß wird, verändert sich der Takt des Lebens in Vorarlberg.
C Skifahrer Panorama Pfannenkopf Alpe Rauz Arlberg © Sepp Mallaun / Vorarlberg Tourismus
Wenn alles weiß wird, verändert sich der Takt des Lebens in Vorarlberg.
Wenn alles weiß wird, verändert sich der Takt des Lebens. Der bunte Herbst weicht zartem Pastell. Die Welt wird leiser. Plötzlich ist vieles anders, manche Vorarlberger wechseln sogar den Job. Geschichten aus einem Land, das den Winter kennt und liebt
TEXT: STEFAN NINK
Es gibt diesen einen Tag, der alles verändert. An dem das Land plötzlich komplett anders aussieht als vorher. An dem sich Vorarlberg runderneuert, sozusagen. Es ist meistens nicht der erste Schnee des Winters, der an diesem Tag fällt. Das ist wahrscheinlich schon vorher passiert, an einem trüben Nachmittag Ende Oktober oder irgendwann nachts, als es niemand bemerkt hat.
... er fällt gerne zaghaft, zögernd, zaudernd, als würde er sich noch nicht so richtig trauen...
Der erste Schnee ist niemals von Dauer und meist nicht viel, er fällt gerne zaghaft, zögernd, zaudernd, als würde er sich noch nicht so richtig trauen. Dann aber kommt dieser Tag, an dem sich alles ändert, an dem das komplizierte Handgemenge zwischen Herbst und Winter endgültig einen Sieger hervorbringt. An diesem Tag kann man beobachten, wie Vorarlberg die Farbe wechselt: Alles wird weiß. Alles. Die Täler, die Dächer, die Autos auf den Parkplätzen und die Klettergerüste auf den Kinderspielplätzen, die Straßen und die Gärten und die Alpen, und die Berge sowieso. Nicht mehr nur hoch oben auf den Gipfeln, nicht länger bloß an den hohen Flanken. An diesem Tag wird alles weiß. In ganz Vorarlberg.
Vorarlberg hat die Farbe gewechselt – alles weiß.
Für die Menschen im Land bedeutet dieser Tag einen Einschnitt: Ab jetzt ist Winter. Der Schnee mag noch einmal vorübergehend verschwinden, in einer Woche oder auch in zwei, meistens aber bleibt er von nun an für die nächsten Monate liegen. Ab jetzt muss er weggeschaufelt werden aus Einfahrten und von Gehsteigen, ab jetzt sollte man für die Fahrt zur Arbeit morgens einen kleinen Winterpuffer einbauen, ab jetzt wollen die Kinder nach der Schule auf die Piste und nicht mehr auf den Fußballplatz. Vieles ändert sich mit der Ankunft des Winters: Die Lifte werden in Betrieb genommen, die Pisten und Loipen gespurt, und in den Hotels bereitet man sich auf die ersten Skiurlauber vor. Aus Bergführern werden Skilehrer. Und wer neulich noch E-Bikes gewartet hat, berät seine Kunden jetzt in Sachen Snowboard-Bindung.
Der Winter verändert das Land, in allen Lebensbereichen, den kompletten Alltag krempelt er um, das ist in den Alpen so.
Er mischt sich schon morgens vor dem Kleiderschrank ein, bei der Wahl der Strecke zur Arbeit und später im Büro sowieso, wenn es in der Kaffeepause um die Pläne fürs kommende Wochenende geht. Darum, ob man rauf aufs Walmendingerhorn soll oder doch lieber auf die Loipe hinterm Haus. Ob man sich mit Freunden auf einen Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt trifft oder zu zweit auf Schneeschuhen in die Abenddämmerung hinein aufbrechen will. Vielleicht hat man ja Glück. Vielleicht sieht man Rehe. Oder sogar einen Hirsch. Denn auch das macht der Winter:
Er fördert einiges zutage. Man entdeckt an den Spuren im Schnee plötzlich, wer außer einem selbst noch unterwegs ist. Der Hase, der im Zickzack über die Wiese gehoppelt sein muss. Das Eichhorn auf dem Weg zwischen Baum und Versteck in der Garage. Und dass offenbar jede Nacht ein Fuchs durch den Garten hinter dem Haus schleicht, heimlich, still, leise – das bemerkt man nun auch.
Schnee sei doch bloß Schnee, heißt es ja manchmal, aber dann ist man an einem Wintertag in Vorarlberg unterwegs, im Montafon oder dem Kleinwalsertal oder dem Bregenzerwald, und stellt plötzlich fest: Das stimmt nicht – Schnee ist eben nicht bloß Schnee, Schnee ist immer neu und immer anders. Vorhin sind dicke Flocken vom Himmel geschwebt, in kleinen Pendelschwüngen, Flocken wie Daunen, die sich auf den Ästen der Tannen zu hohen Hauben Badeschaum türmten. Dann hat sich dort oben etwas verändert, der Luftdruck oder die Temperatur oder sonst eine meteorologische Zutat, und aus den dicken Flocken sind kleine weiße Linsen geworden.
Da fiel er dichter, der Schnee, da fiel er schneller, er fiel, als wolle er allen auf der Erde zeigen, was richtiger Schnee ist. Und jetzt ist das auch vorbei.
Der Schnee ist nun nass, und er platscht vom Himmel, wie Millionen winzige Waschlappen vom Himmel platschen würden. Wenn man ganz still ist, kann man sogar hören, wie der Schnee aufkommt. Manchmal legt er sich wie ein Schleier vor die Welt. Und manchmal schwebt er wie weißes Pulver über den Hängen. Als habe gerade eben jemand eine gewaltige Fuhre von oben hinuntergeworfen, und der Staub des Aufpralls hänge noch immer in der Luft.
Der Schnee verändert Vorarlberg, er reduziert die Vielfalt der herbstlichen Natur auf ein essenzielles Minimum. Sobald er gefallen ist, sehen die Berge nicht mehr so schroff und kantig aus, sondern eher, als liege ein weiches Daunenbett über ihnen, als habe da oben jemand das ganze, weite Land zugedeckt. Natürlich gibt es jene Tage, an denen ein Maler mit zwei Farben auskommen könnte, sollte er den Winter in Vorarlberg auf die Leinwand bringen wollen – mehr als ein strahlendes Weiß und ein knalliges Blau würde er nicht benötigen. An den anderen Tagen aber, an den trüben, an den grauen, wenn die Sicht eingeschränkt ist und das eigene Gefühl für Distanzen und Dimensionen schwindet, an denen schafft der Winter Bilder wie Landschaftsgemälde aus vergangenen Jahrhunderten. Ansichten, auf denen die feine Linie zwischen Himmel und Erde verwischt. Und für die man 117 Farbtöne zwischen Weiß und Dunkelgrau benötigt, um der Welt gerecht zu werden.
Doch, er ist etwas Wunderbares, der Winter, und in Vorarlberg ist er noch ein Stück wunderbarer als anderswo. Fünfundvierzig ausgewiesene Skigebiete gibt es in Österreichs westlichstem Bundesland, und außerdem: Huskyschlittentouren (im Brandnertal), Winter-Trekking mit Lamas (im Montafon) und sogar Fackelwanderungen durch eine vereiste Klamm (im Kleinwalsertal), nur mal als Beispiel. Und natürlich mehr Langlaufloipen und Winterwanderwege, als man in einem Leben Winterurlaube schaffen kann. Und wo liegt das schneereichste Dorf der Welt? Auch in Vorarlberg. Mehr Schnee als in Damüls fällt nirgendwo sonst – das heißt: irgendwo im Norden Kanadas oder in Grönland vielleicht schon. Aber dort ist dann eben kein Dorf.
Ein Schneespaziergang rund um Damüls ist auch deswegen so ziemlich das Schönste, was man an einem Wintertag in Vorarlberg machen kann (wenn man nicht gerade auf Ski oder Snowboard steht). Um einen herum türmt sich mehr Schnee, als man sich das hat vorstellen können. Hoch und höher hat er sich geschichtet. Und dann noch ein Stück höher, als wolle er es im Laufe des Winters noch bis hinauf zu diesem blank geschrubbten Tiefblauhimmel schaffen, von dem er neulich erst gefallen ist.
In solchen Momenten ertappt man sich dabei, wie man plötzlich leiser spricht. Jedes laute Wort, denkt man, könnte den stillen Zauber der Welt zerstören. Schnee besitzt die wunderbare Eigenschaft, dämpfen zu können. Er macht die Welt ruhiger, weil er sie überschaubarer macht, indem er sie abschottet. Er schluckt das Lärmen und das Tosen, er versperrt die Täler und Straßen, er legt sich wie ein großes, weißes Tuch über das Land und schafft sich kleine, eigene Welten. Und Stille – die erzeugt er sowieso. Und mit der Stille die Erkenntnis, dass Stille eben nicht wirklich still ist, sondern ein Verstärker, der andere Geräusche erst hörbar macht. Das Knirschen der Schritte. Das ferne Läuten von Kirchenglocken. Das eigene Ein- und Ausatmen. Das Wuschsch, das entsteht, wenn ein Tannenast nachgibt, und dann kommt eine Ladung herunter, und es staubt und wirbelt, und die ganze Welt verschwindet in weißem Nebel.
Als sei sie überhaupt nicht wichtig.
Als sei sie überhaupt nicht da.